Das Leben in Luxemburg von 1839 - 1939 - Teil 1
von Ing.agr. Vic Fischbach

Im Jahr 1939 feierte Luxemburg seine Unabhängigkeit, die es vor 100 Jahren, und zwar am 19. April 1839 während des Londoner Kongresses erhalten hatte. In jeder Stadt und in vielen Gemeinden des Landes erlebten Groß und Klein, Jung und Alt mit Herz und Seele diese Feier. Gelegentlich der Zentenarfeier am 22. April 1939 in Luxemburg, sagte Großherzogin Charlotte in ihrer offiziellen Rede:
« En 1839 l?économie du pays était à l?état rudimentaire, son industrie était peu importante, l?agriculture travaillait péniblement un sol ingrat, pour nourrir modestement une population clairsemée. »

In diesem Beitrag will ich mich nur mit der Zeitperiode von 1839 bis 1939 befassen, also mit der Zeitspanne der ersten 100 Jahre. Ich glaube, dies ist für die meisten interessanter, denn wir können uns heute kaum vorstellen, wie die Leute damals gelebt haben. Die Zeitspanne von 1940 bis heute ist vielen noch gut in Erinnerung, denn sie haben sie selbst erlebt.

Zur Zeit seiner Unabhängigkeit war Luxemburg arm, sehr arm. Damals war die Bevölkerung nicht einmal halb so groß wie heute, und die Landwirtschaft war nicht in der Lage diese zu ernähren. Unser Land zählte damals 169.920 Leute. Es ist aber interessant festzuhalten, dass die Bevölkerung in den Dörfern, auf dem Land also, größer war als heute, und die Bevölkerung im Grunde genommen nur in den Städten und in den Industriegemeinden zugenommen hat. Luxemburg-Stadt zählte damals 20.000 Einwohner, heute 82.000; Esch hatte 1.500 Einwohner, heute 28.000, Bettemburg damals 1.200, heute 9.000. Eine Dorfgemeinde wie Ell zählte damals 1.000 Einwohner, heute knapp 900. Damals lebten 25-28% in den Städten und 72-75% auf dem Land. Heute ist es umgekehrt.

Wir haben gesagt, dass damals das Land arm war und seine Leute nicht ernähren konnte. Viele Luxemburger haben damals oder hatten auch schon vorher die Heimat verlassen und sind nach Brasilien und in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Im Jahr 1828 sind sehr viele Leute nach Südamerika gefahren. Diese waren hauptsächlich aus den Kantonen Echternach und Grevenmacher, aber auch Leute aus Bigonville und Tüntingen. Diesen Leuten, auch wenn sie bis nach Brasilien gekommen sind, ist es meistens schlecht ergangen, und viele sind wieder nach Europa zurückgekehrt. Die Auswanderer von Bigonville und Tüntingen, so auch jene aus der Arloner Gegend, haben sich auf den Heidflächen zwischen Grosbous, Grevels und Eschdorf niedergelassen, und diese Gegend heißt heute noch Neu-Brasilien.

Obwohl die ersten Brasilienfahrten einen schlechten Ausgang hatten, sind zwischen 1839 ? 1846 doch wiederum viele Familien über das große Wasser gefahren. Aus dem Pratzertal wanderten welche nach Guatemala aus, dann folgten wieder Auswanderungen nach Brasilien. In derselben Zeit begannen auch die Emigrationen nach den USA.

Während dieser Zeit war das Geld knapp. Der Boden hatte einen geringen Wert, und für 120 ? 180 Fr/Ha erhielt man das beste Ackerland, im Ösling sogar noch für weniger Geld.

Auch der Tagelohn war sehr gering. Für 2 Sous und Beköstigung arbeiteten die Taglöhner den ganzen Tag. Während des Sommers war der Lohn allerdings besser, und ein Knecht verdiente 50 ? 80 Fr pro Jahr, dazu Kost, Logis und Kleider. Das waren ein Paar Schuhe, ein Leinenhemd und ein Anzug aus hausmacher Tuch (Tirtech). Eine Magd verdiente 1/3 weniger. Um das Jahr 1840 waren die Löhne schon etwas besser, und ein Knecht verdiente 90 ? 120 Fr. Um 1860 betrug der Lohn für einen guten Knecht 250 ? 350 Fr/Jahr. (Ein Vergleich mit heute: 12.500,00 ? (505.000,- Fr) inkl. Kost und Logis).

Die Leute lebten damals sehr arm, und wenn es hochging, aß man im Oesling einmal in der Woche Fleisch, und viele waren froh, wenn sie Haferbrei, Heidekornspätzli, Kartoffeln mit Milch oder saure Dickmilch erhielten. Im Gutland war es nicht viel besser, und hier bestand ein Spruch: ?Muerges Zopp, Bungen drop, mëttes Brach, Bungen nach, owes Bräi, Bungen dobäi.? Das war die sogenannte Kost von Monnerich.

Aber auch Häuser und Ställe waren in einem erbärmlichen Zustand. Unsere schönen alten Bauernhäuser stammen fast alle aus der österreichischen Zeit (1714 ? 1795) und aus der napoleonischen Zeit (bis 1815). Danach kam die Armut in unser Land, und von da an sind kaum noch Häuser gebaut worden. Erhielt ein Haus ein Dach, so wurde es ein Strohdach. Aber 1845 erging ein Verbot die Häuser mit Stroh zu decken. Dies war Anlass genug, um 1848 eine Rebellion zu machen, und das Verbot wurde schnell wieder aufgehoben. Im Jahr 1876 wurde das Verbot erneuert, und diesmal war man klug genug mit Subsidien nachzuhelfen, wenn ein Strohdach durch ein Schiefer- oder Ziegeldach ersetzt wurde.

Gegen 1840 stand in keinem Haus ein Herd: das Feuer brannte in der Küche auf dem Steinboden. Die Töpfe standen im Feuer oder sie hingen an einem Haken über dem Feuer (Héil). Erst 1860 kommt der Übergang zum Herd. Der Ofen war schon früher bekannt, und die ersten Öfen in unserm Land stammen aus der österreichischen Zeit, also um 1720. Dies waren runde Öfen, die ?Kolonnenöfen? kamen erst nach 1815.

Vor etlichen Jahren ließ man gerne ?Taaken? nachgießen. Diese Gusstafeln bestanden schon vor 1715, als es überhaupt nach keine Öfen gab. Das einzige Feuer im Haus brannte auf dem steinernen Fußboden in der Küche. Dieses Feuer wärmte die Gusstafel (Taak), welche Wärme an die Stube abgab. Die Tafel war von einem Schrank umgeben (Taakeschaf). Vor der Tafel hing ein Vorhang aus Leinen, und hinter diesem reifte der Sauerteig und der ?scharfe Käse?.

Im Jahr 1839 hatten wir eine Gesamtstraßenlänge von 60 km, heute 6.000 km; die Gemeindewege hatten kein Steinbett, und wenn es regnete, war es unmöglich mit Wagen oder Karren darauf zu fahren. Damals waren die Pferde eher Last- als Zugtiere, und die Bauern haben ihren Roggen oder Weizen fast nur auf dem Rücken der Pferde zum Markt gebracht. Erst nach 1850 begann man, an den Wegen zu arbeiten, die es dem Bauer erlaubten, seine Waren mit Teimer oder Karren zum Markt zu bringen.
rbs.luWie sah es rund um die Dörfer aus? Wir haben eingangs gesehen, dass unser Land um 1839 ein reines Agrarland war mit primitivem Ackerbau und einer unrentablen Viehwirtschaft. Ödland, Brachen und Drieschwiesen machten den größten Teil der Flur aus; nur eine kleiner Teil wurde als Ackerland und zwar nach dem Dreifeldersystem genutzt. Das Areal des Dorfes war in drei Flure aufgeteilt, und dort wurden der Reihe nach zuerst Winterfrüchte, dann Sommerfrüchte geerntet, im 3. Jahr wurde es Brachland. Man kann sich heute kaum vorstellen, dass um 1850 im Ösling die Ginster- und Heidflächen bis ins Dorf hinein gereicht haben; aber auch im Gutland sah es nicht viel besser aus, hauptsächlich auf den Sandböden und auf dem Dogger (Minette) war die Produktivität gering. Im Ösling wurde der Boden, der in unmittelbarer Nähe des Dorfes lag, 2-3 Jahre lang als Ackerland genutzt und danach wurde es Weideland. Weiter vom Dorf war das Rodland; dieses blieb 20 ? 30 Jahre liegen und wurde danach einige Jahre genutzt. Dort wurde hauptsächlich Roggen, Hafer, Heidekorn und Kartoffeln angebaut. Nach dieser kurzen Nutzung blieb das Land wieder ein halbes Menschenalter ungenutzt.
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Damals gab es auch noch das Weiderecht. Nach diesem Recht konnte jeder Bewohner des Dorfes sein Vieh auf die Brachen treiben und sogar zu bestimmten Zeiten auf Wiesen und Weiden. Ein Drittel der Felder gehörte also das ganze Jahr der Allgemeinheit. Im Gutland galt das Weiderecht speziell für Rinder und Schweine, im Ösling hauptsächlich für die Schafherden.

Damals hatten wir eine bedeutende Schafhaltung. Der Haustierbestand zählte 70.000 Schafe, dann 15.000 Ziegen, 80.000 Rinder, 20.000 Pferde und 50.000 Schweine. Die Rinder wurden mehr als Zugtiere genutzt und weniger als Milch- und Fleischlieferanten. Die Viehhaltung lieferte aber auch Dünger, der, vermischt mit Kalk, die Bodenfruchtbarkeit erhalten sollte. Diese Düngung war selbstverständlich nicht ausreichend, und der Ertrag war so schlecht, dass die Bevölkerung Hunger litt, wie wir eingangs gesagt haben.

Was arbeiteten damals die Leute? Nehmen wir mein Heimatdorf Schieren. Dort standen 132 Häuser und es zählte 800 Einwohner. Es gab 20 Bauern (heute kaum noch einen), 23 Taglöhner, 6 Händler, 5 Schmiede, 5 Schuster, 5 Wirte, 3 Pferdeknechte, 2 Gießer (Colmar-Hütte), 1 Metzger, 1 Schlosser, 1 Dachdecker, 1 Sattler, 1 Anstreicher, 2 Schneider, 2 Musiker, 1 Förster, 1 Bannhüter und 1 Kolonialwarenhändler. In einem Dorf waren also viele Berufe vertreten; das Handwerk hatte noch seinen Stellenwert, und die Leute liefen nicht in die Stadt oder zur Industrie.
Vic FISCHBACH

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